Kein Problem ist klein genug

Kein Problem ist klein genug

Schulgesundheitsfachkraft Michaela Kellter behandelt eine kleine Schürfwunde.

Schulgesundheitsfachkraft Michaela Kellter behandelt eine kleine Schürfwunde. Foto: Antje Schroeder

Das Mädchen wartet geduldig vor der Tür. Sie hat sich das Knie aufgeschlagen. „Ich bin vom Klettergerüst runtergesprungen und gleich losgerannt“, erzählt die Viertklässlerin und kommt in das Zimmer der Schulkrankenschwester. Michaela Keller zieht sich Handschuhe an und holt ein dickes Pflaster aus dem Schrank. Kein großes Thema für das Mädchen. „So etwas passiert mir öfter“, sagt sie mit einem Schulterzucken. Michaela Keller trägt ihr noch auf, den Eltern Bescheid zu sagen – dann ist das Mädchen schon wieder weg.

Seit knapp vier Jahren ist Michaela Keller an der Diesterweg Grundschule für die kleinen und großen Wehwehchen von 500 Kindern zuständig. An zwei Tagen in der Woche kümmert sie sich außerdem um die Kinder der Grundschule in Treuenbrietzen. Die Schulkrankenschwester – offiziell etwas sperrig „Schulgesundheitsfachkraft“ genannt – arbeitet in einem Modellprojekt, das im Jahr 2017 von dem Bezirksverband Potsdam der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gemeinsam mit dem Brandenburger Gesundheitsministerium, dem Bildungsministerium, der AOK Nordost und der Unfallkasse Brandenburg ins Leben gerufen worden ist.  „Wir fordern schon seit 2009 den Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften“, sagt Stefan Engelbrecht, AWO-Referent im Modellprojekt. Besondere Beachtung fänden hierbei Kinder aus Familien, die aufgrund ihre finanziellen Lage Schwierigkeiten haben.

Für die Schule ist die Krankenschwester eine große Erleichterung: Lehrer sind keine medizinischen Experten und können keine Diagnosen stellen.

Nachdem das zunächst auf zwei Jahre befristete Modellprojekt Ende 2018 um zwei Jahre bis Ende 2020 verlängert und erweitert worden ist, arbeiten mittlerweile landesweit 18 Schwestern an 27 Schulen in neun Modellregionen. In Beelitz sind gleich drei Schulkrankenschwestern tätig – neben Michaela Keller betreut Monika Krapf die Grundschüler in Fichtenwalde, Christin Mundt kümmert sich um die Schülerinnen und Schüler der Solar Oberschule.

Obwohl auch andere Bundesländer mittlerweile derartige Versuche gestartet haben, spielt das Land Brandenburg zusammen mit dem Partnerland Hessen bundesweit eine Vorreiterrolle. Wobei Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in punkto Schulgesundheit fast noch ein Entwicklungsland ist. In den USA und fast allen europäischen Staaten gibt es schon seit Jahrzehnten „school nurses“. „Was in anderen Ländern längst Usus ist, gab es bis dato hier nicht“, sagt AWO-Referent Engelbrecht.

Für die Schule sei die Krankenschwester eine „große Erleichterung“, sagt die Direktorin der Diesterweg-Grundschule, Anja Chrzanowski. Lehrer seien keine medizinischen Experten und könnten keine Diagnosen stellen. Zudem hätten sie oft gar nicht die Zeit, dem kranken Kind die angemessene Aufmerksamkeit zu widmen. „Es ist gut, wenn wir fachliche Unterstützung haben, die sich um das verletzte Kind intensiv kümmern kann, und die Lehrerin um den Rest der Klasse.“ Auch den Eltern würde die Anwesenheit der Schulkrankenschwester Sicherheit geben.

Keller, damals noch Intensivkrankenschwester, hatte von den Plänen im Radio gehört und sich beworben. „Ich wollte mit Kindern arbeiten, für die Kinder da sein.“ Von der Intensivstation in das kleine Schwesternzimmer an der Grundschule – die Tage sind mindestens ebenso gut gefüllt. Eine Drittklässlerin kommt herein und wirkt ziemlich mitgenommen. Kreidebleich setzt sie sich auf den Stuhl der Schulkrankenschwester. „Mein ganzer Arm tut weh“, sagt sie und schluckt. Michaela Keller bittet die Gäste vor die Tür, um das Mädchen eingehend zu untersuchen. Dann gibt sie Entwarnung: Das Mädchen bekommt ein Coolpack und kann wieder in den Unterricht gehen.

Auch die Betreuung chronisch kranker Kinder wird unterstützt – wenn ein Kind zum Beispiel seinen Diabetes noch nicht ganz im Griff hat.

Schürfwunden und Prellungen gehören hier an der Diesterweg-Schule zu den häufigsten Fällen, die die Schulkrankenschwester behandeln muss. Die Eltern würden immer informiert, betont Keller. Und wenn notwendig, behält sie das Kind bei sich, bis die Eltern von der Arbeit gekommen sind oder eine Abholung organisieren konnten. Die Schulkrankenschwester tut aber weitaus mehr als nur Pflaster aufkleben. Sie unterstützt auch bei der Betreuung chronisch kranker Kinder – beispielsweise, wenn ein Kind seinen Diabetes noch nicht ganz im Griff hat und Hilfe bei der Kontrolle der Blutzuckerwerte benötigt.

Ganz wichtig ist zudem das Thema Prävention: Also den Kindern ein gesundes Verhalten beizubringen, damit Krankheiten erst gar nicht entstehen. Michaela Keller übt mit den Kindern das Zähneputzen. Bei der Ernährung ist demnächst das Herbsthema Apfel dran. Und auch die Corona-Hygieneregeln hat Keller mit den Kindern besprochen. In einem speziellen Gerät mit Blaulicht können die Kinder sehen, was noch alles an den Händen klebt, wenn sie diese nicht gründlich genug gewaschen haben. Bisweilen rufen morgens Eltern an und fragen um Rat, ob ihr Kind mit Erkältungssymptomen in die Schule kann. Und manchmal hört Michaela Keller einfach nur zu, etwa wenn ein Kind mit nicht näher bestimmbaren Kopf- oder Bauchschmerzen zu ihr kommt.

Kleine Wunden verarzten, das macht auch Christin Mundt an der Solar Oberschule häufig. Das Pflaster bekommt hier aber noch einen viel tieferen Sinn – indem es hilft, überhaupt erst Kontakt und Vertrauen herzustellen.  „Die Jugendlichen kommen drei bis viermal zum Pflaster kleben, und dann sagen sie, sie hätten eigentlich noch eine ganz andere Frage“, sagt Mundt. In der Oberstufe spielen auf einmal ganz andere Themen eine Rolle. Liebe, Sexualität, Liebeskummer. Die Jugendlichen bräuchten jemanden, der ihre Sorgen ernst nehme – und nicht einfach nur sage, dass sie sich schon bald wieder neu verlieben würden.  „Kein Problem ist klein genug“, sagt die gelernte Krankenschwester Mundt.

Es werden auch eigene Projekte rund um die Schulgesundheit entwickelt, vom Erste-Hilfe-Kurs über den Drogenparcours bis hin zum Thema Sonennschutz.

Auch die großen Themen – Trauer, Tod, der Verlust eines geliebten Menschens – kommen bei Mundt zur Sprache. Manche Kinder ritzen sich oder verletzen sich anderweitig selber, aus Verzweiflung oder Frust über das Leben. Mundt arbeitet eng mit der Sozialpädagogin der Schule zusammen, plant Trauerhelfer oder Seelsorger an die Schule zu holen, entwickelt ständig neue Projektideen. Das geht vom Drogenparcous über ein Erste-Hilfe-Projekt bis hin zum Thema Sonnenschutz. Jüngste Idee ist die Frage, wie man vernünftig Gesundheitsthemen recherchieren kann. Die Jugendlichen seien alles „kleine tolle Menschen“, die manchmal nur einen Stups in die richtige Richtung bräuchten, sagt Mundt, die in der Stelle ihre „Berufung“ gefunden hat und dafür extra aus Bremen hergezogen ist.

Derzeit bemühen sich die Beteiligten, das Projekt zu verlängern. Gesundheitsministerin Ursula Nonnemacher (Grüne) hat vorsorglich 400 000 Euro für das Haushaltsjahr 2021 angemeldet. In den vergangenen zwei Jahren wurden insgesamt rund 1,6 Millionen Euro bereitgestellt: Neben dem Gesundheitsministerium tragen auch das Bildungsministerium, die AOK Nordost, die Unfallkasse Brandenburg und die AWO Potsdam einen Teil der Gesamtkosten. Dies wird voraussichtlich auch im kommenden Jahr so sein. „Nach der jüngsten Haushaltsberatung des Kabinetts sind wir optimistisch, dass – vorbehaltlich der Zustimmung durch den Landtag – diese Gelder auch genehmigt werden“, sagt der stellvertretende Ministeriumssprecher Dominik Lenz. Seitens des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz bestehe ein großes Interesse daran, den modellhaften Einsatz der Schulgesundheitsfachkräfte künftig in ein Regelangebot zu überführen.

Neun von zehn Kindern können nach der qualifizierten „Verarztung“ durch die Schulkrankenschwester nach einem Unfall wieder am Unterricht teilnehmen, hat eine landesweite Auswertung des ergeben. Drei Viertel der Kinder haben die Schulkrankenschwester aufgesucht, die meisten fühlten sich danach auch wirklich besser. Auch langfristig zahlt sich die Arbeit der Schulkrankenschwestern aus. Ein knappes Drittel der Schülerinnen und Schüler ernährt sich gesünder und hängt weniger oft am Handy oder vor Computerspielen. Drei von fünf Kindern oder Jugendlichen bewegen sich öfter, jeder zweite denkt häufiger über die Gesundheit nach.

Auch die Stadt Beelitz ist an einer Fortsetzung interessiert und würde sogar anteilig Kosten übernehmen, was während des Modelprojektes aber noch nicht möglich ist. „Es ist eine absolute Bereicherung und gibt Lehrern, Eltern, aber auch uns als Schulträger Sicherheit“, erklärt Bürgermeister Bernhard Knuth. Dabei gehe es nicht nur um Krankheiten oder kleinere Verletzungen – für die man zuvor übrigens prinzipiell den Notruf gewählt hätte – sondern auch um Fürsorge insgesamt. „Dieses Thema – für das Wohl der Beelitzer zu sorgen, vor allem der kleinsten – nehmen wir sehr ernst. Genau dafür stehen die Schulgesundheitsfachkräfte und passen damit hervorragend in das Konzept einer Kinder– und Familienfreundlichen Kommune. Dass sie nun, in Anbetracht der Corona-Pandemie, zusätzliche Prävention und Aufklärung leisten, ist eine wertvolle Unterstützung.“

An der Diesterweg Schule ist mittlerweile Unterrichtsschluss. Die Kinder wuseln herum und sammeln sich am Tor. Praktisch jedes Kind hier kennt Frau Keller und ihr Krankenzimmer. „Ich war gefühlt schon 300mal bei Frau Keller“, sagt ein Mädchen aus der dritten Klasse. „Ich bin eben einfach tollpatschig.“ Das Mädchen mit dem wehen Arm kommt dazu und macht sich mit ihren Freundinnen auf den Weg zum Hort. Das Coolpack hat scheinbar geholfen – es tut schon gar nicht mehr weh.